Sturmflut

So gut wie alle Küstenbewohner wissen, wie eine Sturmflut entsteht. Sie wissen um die physikalischen Zusammenhänge von der Anziehungskraft des Mondes und der Rotation der Erde um sich selbst. Auch die Sonne spielt eine Rolle in schwächerer Form, besonders wenn beide Himmelskörper in eine Richtung wirken – bei Voll- und Neumond. Dann entsteht die Springflut, die sich durch höher auflaufende Flut bemerkbar macht. Auch das Niedrigwasser erreicht nur eine um einige Zentimeter niedrigere Marke, also der Unterschied zwischen Hoch- und Niedrigwasser ist besonders hoch, es sei denn, ein stärkerer Wind beeinflusst den Wasserstand. Wenn Mond und Sonne gegenläufig wirken, herrscht Nippzeit: Hoch- und Niedrigwasser sind weniger ausgeprägt, Flut- und Ebbstrom sind etwas schwächer.

Wenn die Gezeitenwelle, die auf den Ozeanen kaum festzustellen ist, unsere Rheiderlanddeiche erreicht, sind ungefähr drei Tage und drei Stunden vergangen. Es handelt sich um die so genannte Springverspätung. So kommt es, dass die Springflut an der Ems zu Melkzeiten (Melktide) besonders hohes Wasser führt. Wenn diese astronomisch normal stärkere Flut durch einen Sturm aus west- bis nördlichen Richtungen aufgewühlt, geschoben, gedrückt wird, entsteht an der Küste eine Sturmflut. Erreichen die Böen 12 Beaufort, mehr als 32,6 m/sek oder mehr als 117 km/Std., spricht man von einer Orkanflut. An der Küste sind alle verantwortlichen Stellen – Deichämter, Rettungs- und Ordnungsdienste – alarmiert. Radio- und Fernsehsender geben in regelmäßigen Abständen berechnete Hochwassermarken durch und warnen die Bevölkerung.

Alle Deiche an der Küste werden extremen Belastungen ausgesetzt. Man stelle sich vor: 1 m³ Meter Wasser wiegt ca. eine Tonne, eine herandonnernde brechende Welle kann mit Hunderten von Tonnen auf den Deich prallen, und das stundenlang in fast regelmäßigen Abständen. Dabei bleibt kein Deichrichter oder ein anderer verantwortlicher Beobachter ruhig und gelassen, auch wenn der Deich so konstruiert ist, dass er mit einer ausreichenden Höhe, mit einer qualitativ guten, dicken Kleischicht um den Sandkern bedeckt ist, über eine angemessene Breite (am Dollart fast 100 m) verfügt und eine breite Kappe hat, die ein Überschwappen der Wellen verhindert und so die gefürchteten Kappenstürze vermeidet.

Bei der Sturmflut am 16./17. Februar 1962 entsprachen längst nicht alle Deiche den nach menschlichem Ermessen idealen Maßen, obwohl nach der niederländischen Sturmflutkatastrophe 1953 eine Reihe wichtiger Wasserbaumaßnahmen und Deichverstärkungen auch im deutschen Küstengebiet vorgenommen wurden. Doch ein so radikaler Sturmflutschutz, wie die Holländer ihn durch die bewundernswerte Verwirklichung des Delta-Planes schafften, war im deutschen Küstenbereich nie angestrebt. Man setzte von Anfang an auf Neubau oder Verstärkung von Deichen, auch auf Ersatz von zu schwachen, älteren Deichdurchlässen wie Schöpfwerke, Siele und Deichtore (Diekgatts).

Das Sturmtief 1962 stieß vor allem in die Elbgebiete vor, aber alle Deiche an den deutschen Tideströmen wurden höchsten Belastungen ausgesetzt und hielten ihnen vielfach nicht stand. Der Sturm „Vincinette“ verursachte an einigen Stellen die höchsten Wasserstände, die je bei Sturmfluten gemessen wurden. Nur für die Sturmflut 1906 verzeichnete das Pegelsystem an Teilen der deutschen Küste eine geringfügig höher aufgelaufene Sturmflut.
Johann Kramer untersuchte intensiv die meteorologischen Umstände, die zu sehr schweren Sturmfluten oder Orkanfluten führen. Sturmwetterlagen an der Nordseeküste treten auf, wenn bei „großen Luftdruckunterschieden gegenüber dem Hoch über Südwesteuropa aus dem Raum zwischen England und Island ein Tief in Richtung auf Südskandinavien und Jütland wandert. An ihrer rechten Flanke -in Zugrichtung- bringen diese Tiefs solche Winde, die das Wasser gegen die südliche und östliche Küste drücken.“ (J.Kramer, Sturmflut 1962, S.39) Dass die Pegel verschieden hohe Wasserstände registrieren, liegt an der Windgeschwindigkeit in den jeweiligen Bereichen sowie an der Zugrichtung, Ausdehnung und Wandergeschwindigkeit des Tiefs.
Wenn die Tiefs nur langsam wandern, kann der Wind um so länger auf die Wasseroberfläche einwirken. Da die Zuggeschwindigkeit jedoch meistens zwischen 60 und 100 km/h beträgt, dauert eine sehr schwere Sturmflut selten länger als 24 Stunden, eine Orkanflut selten länger als 8 Stunden. Der Sturmflut vom 16./17. Februar 1962 fielen 349 Menschen zum Opfer. Man hielt eine solche Katastrophe in unserer Zeit nicht für möglich. Allein in Niedersachsen brach der Deich an 61 Stellen, rd. 300 km Deiche waren beschädigt.
Am Dollart wurde der Deich stark angegriffen, und nur mit knapper Not konnte eine Katastrophe abgewendet werden. Bei Völlen brach der Emsdeich, und schnell waren 3000 ha überflutet. Vieh ertrank, Häuser wurden zerstört. Das ist eine schreckliche Bilanz. Dabei herrschte während der Sturmflut noch nicht einmal Springzeit. Nicht auszudenken, was womöglich geschehen wäre, wenn am 16./17. Februar 1962 Springhöhepunkt und nicht Ende der Nippzeit gewesen wäre. Aber auch das Ausmaß dieser Katastrophe ist erschreckend und erschütternd genug. In zahlreichen Dokumentationen schildern kundige Autoren (z.B. Hans Herlin) dramatische Aktionen in einer von Naturgewalten überfallenen Großstadt.

Es wirkten bewundernswerte „rettende Engel“ (Hubschrauberpiloten) mit bei der Bergung hilfloser Menschen, aber die meisten Großstädter mussten fassungslos mit ansehen und hören, dass in dieser modernen Welt wilde Naturgewalten über sie hereinbrachen, mit denen sie nicht gerechnet hatten und auf die sie nur verzögert reagierten. Wie in früherer Zeit war diese Sturmflut der Anlass von Küstenplänen, nach denen neue Deichhöhen, Deichbesticke (-abmessungen), Deichverstärkungen in großem Maßstab in Angriff genommen wurden. 585 km Deiche mussten erhöht oder verstärkt, 650 km Deichverteidigungswege sowie neue Siele und neue Schöpfwerke gebaut werden.

Wie früher mussten die Menschen auch in unserer neuesten Zeit Rückschläge hinnehmen und ihre Schutzbauten neuen Erfahrungen anpassen. Zur Zeit wähnen wir uns sicher, selbst ein Großteil der Küstenbewohner ist kaum beunruhigt, wenn Sturmfluten mit erhöhten Wasserständen gemeldet werden. Aber sie sollten wachsam bleiben. „Im Überlebenskampf gegen Sturmfluten gibt es keinen Stillstand. Der Wasserspiegel der Nordsee steigt weiter und mit ihm die Sturmfluthöhe.“ (Niedersächs. Hauptdeichverbände, a.a.O., Faltblatt)